Ich hab ein Kind im Ohr – Morgenandacht am Freitag
Hans-Ulrich Hofmann: „Als Wilfried Röcker mir das Thema der Andacht nannte, musste ich schmunzeln: Ich hab ein Kind im Ohr. Das soll das Thema sein?
Mir ist ja eher der kleine Mann im Ohr vertraut, der Tinnitus, der sich manchmal unüberhörbar meldet. Viele von euch kennen vermutlich auch diesen kleinen Quälgeist, bei dem es klug ist, wenn man sich ein wenig mit ihm anfreundet, dann wird er nämlich etwas leiser.
Das Kind im Ohr ist leider nicht so direkt zu erkennen und wohl ebenfalls auch nicht so ganz leicht zu behandeln.
Was das für ein Kind ist? Der Vorbereitungsausschuss hat mir für die Diagnostik einen Vers aus dem Sprüchebuch genannt: Proverbi 15,32 Wer nichts von einer guten Erziehung wissen will, schadet sich selbst. Wer sich zurechtweisen lässt, erwirbt Verstand„
Ihr habt dabei die Version der Basisbibel gewählt. Ich habe mich gefragt, ob ihr diesen Text auch in der Version der Lutherbibel gewählt hättet. Dort heißt es: Wer Zucht verwirft, der macht sich selbst zunichte. Wer sich aber etwas sagen lässt, der ist klug. Mit dem Wort Zucht trifft Luther allerdings ziemlich genau das, was mit dem hebräischen Wort muser im Proverbienbuch gemeint ist. Nämlich eine ziemlich autoritäre Erziehung durch die Eltern, wo auch schon mal der Stock zur Hand genommen werden kann, so zum Beispiel in Sprüche 13,24 Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn. Wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten. Also hier werden schon in früher Jugend wortwörtlich Sprüche geklopft, eingeklopft, eingetrichtert.
Das Raffinierte am Proverbienbuch ist nun allerdings, dass es zwei Stufen der Erziehung kennt, eine erste imperativische Erziehung durch die Eltern, leider mit den Prinzipien einer schwarzen Pädagogik. Aber auf diese erste Stufe soll eine zweite Stufe zweiter folgen, die indikativische Unterweisung, ein Lernprozess, wo der Schüler selbstständig über das Gelernte nachdenkt und zu einem eigenen Urteil kommt. Intendiert ist ein Bildungsprozess, wo die erwachsene Person reflektiert und selbstverantwortlich die jeweilige Situation beurteilen und entsprechend handeln kann. Die Weisheitsschülerin ist da selber Subjekt ihres Lernens. Und dieses Lernen zielt auf Einsicht, Verstehen und Herzensbildung.
Ich finde im Gegensatz zu der üblen Prügelpädagogik der ersten Stufe diesen zweiten Teil des Proverbienkonzepts faszinierend. Denn es entspricht genau unserer Vorstellung vom lebenslangen Lernen. Lebenslanges Lernen, neugierig bleiben, immer wieder hinterfragen, mit einem Anfängergeist unterwegs sein und bleiben, um ein immer mehr authentischerer, mit sich selbst im Einklang werdender Mensch zu werden, wirklich eine lebenslange faszinierende Herausforderung.
Und hier bin ich wieder bei dem Kind im Ohr. Es beschreibt ziemlich genau das, was im Proverbienbuch die erste Stufe, die imperativische Erziehung meint. Als kleine Kinder sind wir ziemlich wehrlos dem ausgeliefert, was uns unsere Eltern an Sprüchen und an Lebenshaltungen vermitteln. Und zu unserem großen Glück waren ja unsere Eltern auch meistens in der Lage, uns Liebe, Mitgefühl und Wärme und auch eine gute Portion Selbstvertrauen zu vermitteln. Dafür können wir ihnen gar nicht dankbar genug sein.
Kinder, die in familiären Verhältnissen aufwachsen, in denen das nicht passiert, laufen Gefahr, diese innere Haltung nicht entwickeln zu können. Ich denke zum Beispiel an Kinder, die in Familien aufwachsen, in denen Not und Gewalt herrscht, oder in denen Eltern durch Krankheit und Sorgen so belastet sind, dass sie sich ihren Kindern nicht ausreichend zuwenden können. Diese Kinder leiden unter einem großen Defizit an wertschätzender Zuwendung mit gravierenden Auswirkungen auf ihre weitere seelische Entwicklung. Ihnen fehlt das Selbstwertgefühl. Und diese innere Ohnmacht führt dazu, dass ich andere brauche, um über sie Macht auszuüben, dass ich meine Identität dadurch zu gewinnen suche, in dem ich andere erniedrige. Das ist meines Erachtens seine der Wurzeln für den respektlosen Umgang der Menschen miteinander, eine Ursache für die Gereiztheit unserer Gesellschaft.
Aber es ist nicht nur die Intensität und Art der Zuwendung, die uns prägt. Es sind oft auch direkt Sprüche oder besser gesagt Ansprüche der Eltern, die sie uns vermitteln und die uns tief prägen. Und diese Ansprüche können mitunter ganz schön belastend sein. In der Transaktionsanalyse gibt es das Konzept der sogenannten Antreiber. Sei perfekt! Sei anderen gefällig! Streng dich an! Sei stark! Beeil dich! Solche Ansprüche, die uns von unseren Eltern, gar nicht immer nur verbal, sondern auch durch Haltungen eingebläut werden, können uns ein Leben lang verfolgen, prägen und belasten, wenn sie uns nicht bewusst werden.
Ich habe mich mal in einer Reha-Kur nach einem Bandscheibenvorfall im Gespräch mit der Psychologin mit den Antreibern beschäftigt, die mich persönlich angehen. Einer der Antreiber, die mir damals bewusst geworden sind, lautete: Sei perfekt! Es ist natürlich einleuchtend, wenn man mit solch einem Anspruch unterwegs ist, dass das Druck macht, Druck, der sich vielleicht auch in Form von Rückenschmerzen bemerkbar macht.
Leider ist es bei diesen Antreibern so, wie es der legendäre Begründer des Chassidismus, Rabbi Baal Shem tov, gesagt hat: Es ist leichter, den gesamten Talmud zu lernen, als eine einzige menschliche Eigenschaft zu verändern. Es ist erschreckend, wie manche Menschen ein Leben lang – halb bewusst, halb unbewusst und oft mit großen Schmerzen dem Skript folgen, das ihnen ihre Eltern oder eine andere autoritäre Person eingeimpft haben.
Ich bin das Skript auch 12 Jahre später noch nicht ganz los. Das merke ich zum Beispiel daran, dass ich mir immer große Mühe gebe, ein ansprechendes Wort zum Sonntag für die Zeitung zu schreiben. Weil ich dazu schon viele gute Echos bekommen habe. Und Lob ist ein sehr subversiver Antreiber, immer noch besser zu werden. Das werden alle kennen, die ab und zu auf der Kanzel stehen.
Also, die zweite Stufe der Erziehung im Proverbienbuch, das lebenslange Lernen ist immer wieder angesagt, um mit dem Kind im Ohr gut umzugehen, seine Sprüche zu entdecken und zu hinterfragen und durch weniger schmerzliche, wohltuende Sätze zu ersetzen. Einer dieser Sätze, die mir wichtig geworden sind, lautet: Betrachte dich stets mit zartfühlender Nachsicht. Ein Freund schickte ihn mir vor vielen Jahren. Eine gute Medizin gegen das durch falschen Perfektionismus entstehende Hadern mit sich selbst. Und das möchte ich euch jetzt ins Ohr flüstern: Betrachte dich stets mit zartfühlender Nachsicht.
Noch eine kleine Anmerkung zu unserer aktuellen Diskussion. Vielleicht empfinden wir den Supbericht auch als imperative Erziehung, als ein Einbläuen, ein Bestimmtwerden top down. Es wird darauf ankommen, dass jeder und jede von uns persönlich zur zweiten, zur indikativischen Stufe kommt, zu einem persönlichen Lernprozess, um die vorgeschlagenen Richtung in sinnvolle eigene Schritte zu übersetzen, die wir auch persönlich und in Zusammenarbeit mit unseren Gemeinden bejahen und gehen können. AMEN“
Pastor Hans-Ulrich Hofmann
Lieber Hans-Ulrich,
habe mit großem Interesse Deine Andacht gelesen. Mir sind beide Seiten in meiner Erziehung bekannt, doch denke ich im Nachhinein, dass ich recht gut damit zurechtgekommen bin.
Liebe Grüße, auch an Martina,
Doris
Lieber Hans-Ulrich,
mich hat Deine Andacht sehr angesprochen.
Hab ganz herzlichen Dank, dass Du sie hier veröffentlicht hast, sodass sie nachzulesen ist.
Herzliche Grüße Marlis